Dublin-Abschiebungen sofort stoppen!
Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit der Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union!
Sehr geehrte Bundeskanzlerin Angela Merkel,
sehr geehrter Bundesinnenminister Thomas de Maizière,
wir fordern Sie eindringlich auf, mit sofortiger Wirkung alle Abschiebungen von Flüchtlingen in andere europäische Länder im Rahmen des Dublin-Systems zu stoppen.
Das sogenannte Dublin-System regelt die Frage der Zuständigkeit der EU-Mitgliedsstaaten für die Durchführung von Asylverfahren von Flüchtlingen. Die Dublin-III-Verordnung von 2013 hält am Prinzip ihres Vorgängers, Dublin II, fest: dem „Verursacherprinzip“. Danach ist derjenige Mitgliedsstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, den der oder die Asylsuchende bei der irreglären Einreise in die Europäische Union zuerst betreten hat. Damit wird, das Funktionieren des Systems vorausgesetzt, nicht nur fast die komplette Verantwortung für die Durchführung von Asylverfahren an die (oft wirtschaftlich vergleichsweise schwächeren) Staaten an den EU-Außengrenzen abgewälzt.
Vor allem läuft dieses Systems den Interessen und Rechten der Flüchtlinge selbst völlig entgegen. Sie können nicht selbst auswählen, in welchem Staat sie ihr Asylverfahren durchführen möchten. Ob sie in einem EU-Staat Verwandte oder Freunde haben, ob der Staat Flüchtlinge menschenwürdig unterbringt und versorgt, ob sie rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind, in der Obdachlosigkeit landen oder keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben, ob ein Land Asylsuchenden aus bestimmten Ländern den notwendigen Schutz verweigert – all das interessiert nach dem „Verursacherprinzip“ nicht. Das Dublin-System dient lediglich dazu, ein ordnungspolitisches Prinzip durchzusetzen.
Restriktive Kriterien zur Visumsvergabe und immer engmaschigere Kontrollen an den Außengrenzen zwingen Flüchtlinge immer öfter dazu, zu versuchen, irregulär in die EU einzureisen, um einen Asylantrag stellen zu können. Das „Verursacherprinzip“ des Dublin-Systems schafft einen Anreiz für besonders restriktive und damit Menschenleben gefährdende Grenzkontrollen. Gegen diejenigen, die es geschafft haben, trotz der Abschottungsmaßnahmen EU-Territorium zu betreten und dann z.B. nach Deutschland weiterzureisen, um hier einen Asylantrag zu stellen, geht die Fremdbestimmung weiter. Es ist das Prinzip des Dublin-Systems, wie von Abschiebungen im Allgemeinen, dass Staaten darüber bestimmen, ob der Aufenthalt eines Menschen zulässig oder eine Abschiebung zumutbar ist.
Das Dublin-System ist an der Realität gescheitert. Abschiebungen nach Griechenland, wo Flüchtlinge mit überfüllten Haftlagern, Obdachlosigkeit, Übergriffen durch Sicherheitskräfte und insgesamt katastrophalen Lebensumständen konfrontiert waren und sind, hat Deutschland nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) 2011 bis heute ausgesetzt. Nach Italien, wo Flüchtlinge, auch Familien mit Kindern, der Obdachlosigkeit überlassen werden, wird dagegen weiter abgeschoben. Nun war es in den vergangenen Wochen wieder der EGMR, der in zwei Fällen Dublin-Abschiebungen aus Deutschland und der Schweiz nach Italien stoppte. Mehrfach wurden auch vor deutschen Gerichten Dublin-Abschiebungen wegen dem Risiko unmenschlicher Behandlung gestoppt. Gerichtlich muss so mühsam stückweise korrigiert werden, was im Dublin-System strukturell angelegt ist: Willkür und das Übergehen der Menschenrechte und persönlichen Interessen der Geflüchteten.
Angesichts der offensichtlichen Krise des Dublin-Systems wurde zuletzt diskutiert, das Kriterium der irregulären Einreise durch ein Quotensystem zu ersetzen. Danach sollen Kriterien definiert werden, anhand derer die Asylsuchenden auf die EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden. Dadurch könnte zwar dem „Verursacherprinzip“ endlich ein Ende gesetzt werden. An der staatlichen Fremdbestimmung über das Land des Asylverfahrens würde sich dadurch jedoch nichts ändern.
Ein Netzwerk von deutschen Nichtregierungsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden hat im März 2013 das „Memorandum Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit“ herausgegeben [.pdf]. Darin schlagen sie vor, das Kriterium der irregulären Einreise durch das Prinzip der freien Wahl des Mitgliedsstaates durch den Flüchtling zu ersetzen. Wir unterstützen diese Forderung mit Nachdruck, da nur so den individuellen Menschenrechten und Interessen der Flüchtlinge in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden kann.
Daher fordern wir:
– Stoppen Sie sofort alle Dublin-Abschiebungen und machen Sie in allen Fällen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch, so dass die Flüchtlinge ihre Asylverfahren in Deutschland durchführen können.
– Setzen Sie sich auf europäischer Ebene dafür ein, das „Verursacherprinzip“ des Dublin-Systems abzuschaffen, da es zu Ungerechtigkeiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und zu Menschenrechtsverletzungen gegen Asylsuchende führt sowie einen Anreiz zu menschenrechtswidrigen Abschottungsmaßnahmen an den Außengrenzen schafft.
– Setzen Sie sich auf europäischer Ebene für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit ein, das das Recht auf freie Wahl des Mitgliedsstaates durch den Flüchtling anerkennt.
Um den offenen Brief zu unterstützen, schreibe eine E-Mail mit Namen und ggf. Organisation an: gegendublin[at]bbzberlin.de
Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:
Organisationen:
– Aktionsbündnis gegen Dublin
– Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und MigrantInnen (BBZ)
– KommMit – für Migranten und Flüchtlinge e.V.
– Borderline Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.
– Flüchtlingsrat Berlin
– Flüchtlingsrat Brandenburg
– Xenion – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte
– Jugendliche ohne Grenzen (JoG)
– Asyl in der Kirche Berlin e.V.
– Verein iranischer Flüchtlinge in Berlin e.V.
– Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen (KuB) e.V.